Jedes Jahrzehnt hat seinen Höhepunkt. Wenn der Geist der jeweiligen Zeit mit voller Wucht zuschlägt. In den Achtzigern war es 1984. Die Siebziger waren endgültig hinter dem Horizont verschwunden, die Jugendkulturen der Post-Punk-Ära hatten sich ausdifferenziert: New Wave, Psychabillies, Popper, Skins, Mods (fast schon wieder weg) und wie sie alle hießen. Die Oberfläche war zum Objekt des Tiefsinns geworden: Gesamtkunstwerke wie Visage und OMD zelebrierten das Balancieren auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch und Avantgarde. Amateurgeist trifft verkünstelte Kühnheit. Und mit Bands wie Depeche Mode oder Duran Duran waren neue Helden am Start, die den experimentellen Synthpop der frühern Achtziger gekonnt in veritablen Mainstream-Pop transformiert hatten.
Mitten in diese Explosion des Boygroup-Dreiminutensong-Teenie-Pop hinein schallte ein fremdartiger Beschwörungsgesang aus einer anderen Welt: “Heyyy, heyyy”. Klar, “My Soul Unwraps Tonight” von Savage Progress ist aus heutiger Sicht unverkennbar eighties. Aber zu seiner Zeit war es ein wildes Hörerlebnis. So bunt die Bandmitglieder – mit Hintergründen aus Afrika, Israel, Indien und England – so bunt der Sound, so bunt das Video. Irgendwie Worldmusic, irgendwie New Wave, irgendwie undefinierbar. Eine knallige Slap-Bass-Line, gleitende, rhythmische Sounds, der etherische Gesang der Sängerin Glynnis Thomas.
Die Vielfalt der Einflüsse war kein Wunder: Bandgründer Rik Kenton war Anfang der Siebziger kurze Zeit bei Roxy Music tätig gewesen, dem Prototypen der unterkühlten New-Wave-Band. Der Produzent, ein gewisser Rupert Merton, hatte mit Thompson Twins schon kommerzielle Erfolge gehabt, war aber zugleich Produzent der Sonderlinge von Freur (später Underworld). Es gab musikalische Verbindungen zu Prefab Sprout, einem anderem versponnenen Projekt abseits des Popgetöses. Viel Potenzial also für musikalische Überraschungen.
Der Sound machte neugierig auf mehr. Aber es sollte nicht mehr viel kommen. Kurz nach dem Hit war schon wieder Schluss für Savage Progress. Der Song ist fast vergessen, die Formation auch. Höchste Zeit, an diesen eigenartigsten Hit im Pop-Sturm des Jahres 1984 zu erinnern. Bevor diese Perle ganz in den Tiefen der Musikgeschichte verschwindet.
OMD: Souvenir
Wahrscheinlich muss man in den Achtzigern aufgewachsen sein, um es als Kunstfertigkeit zu sehen, wie manche Band dieser Dekade gekonnt auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch und Kunst zu balancieren verstand. OMD war so eine Band. Vordergründig fast schon Schlager, dick instrumentiert, schmachtend vorgetragen, sind speziell die Songs ihres Albums Architecture & Morality aus dem Jahr 1982 echte Pop-Perlen, so auch das gegenüber dem Hit “Maid of Orleans” etwas unbekanntere “Souvenir”. Das Video ist so uneindeutig wie die Musik: irgendwo zwischen Bohème-Inszenierung und Filmtrailer, in Bildern schwelgend und bei allem Pathos auch irgendwie distanziert. Verschlüsselte Schönheit mit Kitschfaktor. Eben kein Plastik, sondern Kunst.